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Erwägungsgründe

Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates

vom 6. Juni 2002

über Finanzsicherheiten

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION -

gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf Artikel 95,

auf Vorschlag der Kommission(1),

nach Stellungnahme der Europäischen Zentralbank(2),

nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses(3),

gemäß dem Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag(4),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1) Die Richtlinie 98/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 1998 über die Wirksamkeit von Abrechnungen in Zahlungs- sowie Wertpapierliefer- und -abrechnungssystemen(5) stellte einen entscheidenden Schritt zur Schaffung eines soliden rechtlichen Rahmens für Zahlungs- und Wertpapierabrechnungssysteme dar. Die Umsetzung dieser Richtlinie hat gezeigt, dass das bei derartigen Systemen durch unterschiedliche Rechtsordnungen bedingte Risiko begrenzt werden muss und gemeinsame Regeln für die zugunsten solcher Systeme bestellten Sicherheiten von Nutzen sind.

(2) In ihrer Mitteilung vom 11. Mai 1999 an das Europäische Parlament und den Rat über Finanzdienstleistungen "Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan" hat sich die Kommission nach Anhörung von Marktsachverständigen und nationalen Behörden dazu verpflichtet, weitere Vorschläge für Legislativmaßnahmen zum Thema Sicherheiten auszuarbeiten, um über die Richtlinie 98/26/EG hinausgehende Fortschritte zu erzielen.

(3) Es sollte eine gemeinschaftsweite Regelung für die Bereitstellung von Wertpapieren und Barguthaben als Sicherheit in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts oder im Wege der Vollrechtsübertragung, einschließlich Wertpapierpensionsgeschäften (Repos), geschaffen werden. Dies wird zu einer weiteren Integration und höheren Kostenwirksamkeit des Finanzmarkts sowie zur Stabilität des Finanzsystems in der Gemeinschaft beitragen und dadurch den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im Finanzbinnenmarkt fördern. Im Zentrum dieser Richtlinie stehen zweiseitige Vereinbarungen über die Bestellung von Finanzsicherheiten.

(4) Diese Richtlinie wird in einem europäischen Rechtsrahmen angenommen, der neben der Richtlinie 98/26/EG insbesondere aus der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten(6), der Richtlinie 2001/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2001 über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen(7) und der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren(8) besteht. Diese Richtlinie passt sich in die generelle Ausrichtung dieser bestehenden Rechtsakte ein und legt nichts Gegenteiliges fest. Vielmehr ergänzt sie die bestehenden Rechtsakte, indem sie weitere Bereiche regelt und in Bezug auf bestimmte, durch diese Rechtsakte bereits geregelte Aspekte eine Erweiterung vornimmt.

(5) Um die Rechtssicherheit im Bereich der Finanzsicherheiten zu erhöhen, sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass Finanzsicherheiten von bestimmten Vorschriften ihres Insolvenzrechts ausgenommen sind, und zwar insbesondere von solchen Vorschriften, die der effektiven Verwertung einer Sicherheit im Wege stehen oder derzeit praktizierte Verfahren, wie die bilaterale Aufrechnung infolge Beendigung ("close out netting"), die Bereitstellung zusätzlicher Sicherheiten oder die Ersetzung bestehender Sicherheiten in Frage stellen würden.

(6) Diese Richtlinie behandelt nicht die Rechte an als Finanzsicherheit gestellten Vermögensgegenständen, die außerhalb einer Sicherungsvereinbarung oder außerhalb der Rechtsvorschriften über die Einleitung oder Fortsetzung eines Liquidationsverfahrens oder von Sanierungsmaßnahmen erwachsen, wie beispielsweise Ansprüche auf Rückgabe wegen Irrtums, Versehens oder fehlender Geschäftsfähigkeit.

(7) Der Grundsatz der Richtlinie 98/26/EG, wonach für Sicherheiten in Form von im Effektengiro übertragbaren Wertpapieren das Recht des Landes gilt, in dem sich das maßgebliche Register, Konto oder zentrale Verwahrsystem befindet, sollte ausgedehnt werden, um die notwendige Rechtssicherheit für derartige grenzüberschreitend gehaltene Wertpapiere und ihre Verwendung als Sicherheit im Sinne dieser Richtlinie zu schaffen.

(8) Die Regel des "Rechts der belegenen Sache" (lex rei sitae), der zufolge die Wirksamkeit einer Finanzsicherheit gegenüber Dritten sich nach dem Recht des Landes bestimmt, in dem die Sicherheit belegen ist, wird derzeit von allen Mitgliedstaaten anerkannt. Ungeachtet dessen, dass diese Richtlinie auf unmittelbar gehaltene Wertpapiere Anwendung findet, sollte die Belegenheit von im Effektengiro übertragbaren Wertpapieren, die als Finanzsicherheit gestellt und über einen oder mehrere Intermediäre zwischenverwahrt werden, bestimmt werden. Hat der Sicherungsnehmer eine Sicherheit inne, die nach dem Recht des Landes, in dem sich das maßgebliche Konto befindet, wirksam ist, sollte auch für die Wirksamkeit der Sicherheit gegenüber konkurrierenden Eigentums- oder sonstigen dinglichen Rechten und für ihre Verwertung ausschließlich das Recht dieses Landes maßgebend sein, damit keine Rechtsunsicherheit infolge unvorhergesehener Rechtsvorschriften entsteht.

(9) Um den Verwaltungsaufwand der Parteien bei der Bestellung von Finanzsicherheiten im Sinne dieser Richtlinie möglichst gering zu halten, sollte nach einzelstaatlichem Recht für die Wirksamkeit der Sicherheit nur vorgeschrieben werden dürfen, dass die Finanzsicherheit dem Sicherungsnehmer oder seinem Vertreter geliefert oder im Wege des Effektengiros gutgeschrieben wird oder ihnen auf sonstige Weise der Besitz daran oder die Kontrolle darüber verschafft wird, sofern sie den Besitz oder die Kontrolle nicht bereits innehatten; Sicherungstechniken, bei denen der Sicherungsgeber Sicherheiten ersetzen oder überschüssige Sicherheiten zurücknehmen darf, werden hierdurch nicht ausgeschlossen.

(10) Aus denselben Gründen sollte die Bestellung und die Wirksamkeit einer Finanzsicherheit, die prozessuale Beweisführung bei einer Finanzsicherheit oder die Besitzverschaffung an einer Finanzsicherheit nicht von der Erfuellung etwaiger Formerfordernisse abhängig gemacht werden; derartige Erfordernisse sind etwa die Ausfertigung von Dokumenten in einer bestimmten Form oder auf bestimmte Art und Weise, die Einreichung von Unterlagen bei einer amtlichen oder öffentlichen Stelle oder die Eintragung in ein öffentliches Register, die Bekanntmachung in einer Zeitung oder einem Anzeigenblatt oder einem amtlichen Register oder Publikationsorgan oder in jeder anderen Form, die Mitteilung an eine Amtsperson oder der Nachweis des Datums der Ausfertigung eines Dokuments oder einer Urkunde, des Betrags der besicherten Verbindlichkeiten oder sonstiger Angaben in einer bestimmten Form. Allerdings muss diese Richtlinie ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Erwägungen einerseits und der Sicherheit der vertragsschließenden Parteien und etwaiger Dritter wahren, um unter anderem der Gefahr von Betrug zu begegnen. Dieses Gleichgewicht sollte dadurch erreicht werden, dass diese Richtlinie nur für besitzgebundene Finanzsicherheiten gilt, bei denen die Besitzverschaffung schriftlich oder auf einem anderen dauerhaften Träger nachgewiesen werden kann, wodurch das betreffende Sicherungsgeschäft äußerlich nachvollziehbar bleibt. Rechtshandlungen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats für die wirksame Übereignung oder Bestellung eines Sicherungsrechts an anderen Finanzinstrumenten (als im Effektengiro übertragbaren Wertpapieren) erforderlich sind, wie beispielsweise das Indossament bei Orderpapieren oder der Eintrag im Emittentenregister im Falle von Namenspapieren, sollten nicht als Formerfordernisse im Sinne dieser Richtlinie gelten.

(11) Ferner sollte diese Richtlinie nur Finanzsicherheiten schützen, deren Bestellung nachgewiesen werden kann. Dieser Nachweis kann schriftlich oder auf jede andere rechtswirksame Weise erfolgen, die nach dem für die Sicherungsvereinbarung maßgeblichen Recht vorgesehen ist.

(12) Die einfachere Verwendung von Finanzsicherheiten aufgrund des geringeren Verwaltungsaufwands erhöht auch die Effizienz der für die Umsetzung der gemeinsamen Geldpolitik notwendigen grenzüberschreitenden Transaktionen der Europäischen Zentralbank und der Zentralbanken der an der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmenden Mitgliedstaaten. Darüber hinaus bringt die Tatsache, dass Finanzsicherheiten in begrenztem Umfang von bestimmten Vorschriften des Insolvenzrechts ausgenommen sind, eine weiter gehende Funktion der gemeinsamen Geldpolitik zum Tragen, nämlich den Marktteilnehmern zu ermöglichen, die am Markt vorhandene Gesamtliquidität durch grenzüberschreitende, sicherheitsunterlegte Transaktionen ins Gleichgewicht zu bringen.

(13) Durch diese Richtlinie soll die Wirksamkeit der Bestellung einer Finanzsicherheit in Form der Vollrechtsübertragung geschützt werden, beispielsweise dadurch, dass die "Umdeutung" (recharacterisation) eines solchen Sicherungsgeschäfts (einschließlich Wertpapierpensionsgeschäften) in ein beschränktes dingliches Sicherungsrecht ausgeschlossen wird.

(14) Die bilaterale Aufrechnung infolge Beendigung ("close out netting") sollte rechtlich abgesichert werden, und zwar nicht nur als Mechanismus zur Verwertung von Finanzsicherheiten in Form der Vollrechtsübertragung (einschließlich Wertpapierpensionsgeschäften), sondern darüber hinaus auch in Fällen, in denen sie Bestandteil der Sicherungsvereinbarung ist. Auf dem Finanzmarkt gängige, bewährte Risikomanagementpraktiken sollten geschützt werden, indem den Marktteilnehmern die Möglichkeit gegeben wird, ihre aus Finanztransaktionen jeder Art erwachsenden Kreditrisiken auf Nettobasis zu verwalten und zu verringern. Das Kreditrisiko wird dabei durch die Zusammenfassung der geschätzten Risiken aus allen ausstehenden Transaktionen mit einer Gegenpartei ermittelt, wobei die gegenseitigen Forderungs- und Verbindlichkeitenposten miteinander verrechnet werden und der hieraus resultierende Nettosaldo mit dem Marktwert der Finanzsicherheit verglichen wird.

(15) Diese Richtlinie sollte nicht die Voraussetzungen für eine wirksame Aufrechnung oder Verrechnung gemäß einzelstaatlichem Recht berühren, wie beispielsweise die Gegenseitigkeit der Forderungen und Verbindlichkeiten oder ihre Entstehung, bevor der Sicherungsnehmer von der Einleitung eines Liquidationsverfahrens oder von Sanierungsmaßnahmen gegenüber dem Sicherungsgeber (oder von dem vorgeschriebenen Rechtsakt, der die Einleitung solcher Verfahren zur Folge hat) Kenntnis hatte oder hätte haben müssen.

(16) Die bewährte und von den Aufsichtsbehörden geförderte Praxis der Marktteilnehmer, zum Zwecke des Risikomanagements und zur Begrenzung der gegenseitigen Kreditrisiken den Marktwert von Kreditrisiko und Finanzsicherheit zu ermitteln und ausgehend davon entweder eine Aufstockung der Sicherheit zu verlangen oder überschüssige Sicherheiten zurückzugeben, sollte von bestimmten automatischen Anfechtungs- oder Nichtigkeitsregeln ausgenommen sein. Dies gilt auch für die Möglichkeit, die als Sicherheit gestellten Vermögensgegenstände durch andere, gleichwertige Vermögensgegenstände zu ersetzen. Dadurch soll lediglich verhindert werden, dass die Bestellung von zusätzlichen oder von Ersatzsicherheiten allein deswegen nichtig oder anfechtbar sein kann, weil die maßgeblichen Verbindlichkeiten bestanden, bevor die Finanzsicherheit gestellt wurde, oder weil die Finanzsicherheit während eines gesetzlich bestimmten Zeitraums verschafft wurde. Dies greift jedoch nicht der Möglichkeit vor, die Bestellung einschließlich der Besitzverschaffung an der ursprünglichen, einer zusätzlichen oder einer Ersatz-Finanzsicherheit nach einzelstaatlichem Recht anzufechten, beispielsweise weil hierdurch andere Gläubiger vorsätzlich geschädigt worden sind (darunter fallen z. B. Anfechtungen wegen betrügerischer Handlungen oder ähnliche Anfechtungsregeln, die während eines gesetzlich bestimmten Zeitraums gelten).

(17) Diese Richtlinie sieht rasche und unbürokratische Verwertungsverfahren vor, um die finanzielle Stabilität zu sichern und Dominoeffekte im Falle einer Vertragsverletzung durch eine der Parteien der Sicherungsvereinbarung zu begrenzen. Allerdings schafft die Richtlinie einen Ausgleich mit den Interessen des Sicherungsgebers und Dritter, indem sie ausdrücklich vorsieht, dass ein Mitgliedstaat einzelstaatliche Vorschriften über eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Ver- oder Bewertung von Finanzsicherheiten und der Ermittlung der Höhe der maßgeblichen Verbindlichkeiten beibehalten oder erlassen kann. Eine solche Kontrolle sollte es den Gerichten ermöglichen zu überprüfen, ob die Ver- oder Bewertung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommen wurde.

(18) Barsicherheiten sollten sowohl im Wege der Vollrechtsübertragung als auch in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts bestellt werden können, wobei im ersten Fall die Auf- oder Verrechnung (netting) und im zweiten Fall die Verpfändung der Barsicherheit rechtlich anerkannt und geschützt werden sollten. Barsicherheit in diesem Sinne ist nur ein auf einem Konto gutgeschriebener Betrag oder eine vergleichbare Geldforderung (beispielsweise Geldmarkt-Sichteinlagen), wodurch Bargeld ausdrücklich ausgeschlossen wird.

(19) Diese Richtlinie sieht ein Verfügungsrecht über Finanzsicherheiten in Form eines beschränkten dinglichen Sicherungsrechts vor, das die Liquidität an den Finanzmärkten erhöhen wird, weil die "verpfändeten" Wertpapiere auf diese Weise weiter verwendet werden können. Diese mögliche Weiterverwendung sollte jedoch einzelstaatliche Rechtsvorschriften über die Trennung der Vermögensgegenstände sowie zur Verhinderung gläubigerschädigender Handlungen unberührt lassen.

(20) Diese Richtlinie berührt nicht die Wirksamkeit der vertraglichen Bedingungen der als Sicherheit gestellten Finanzinstrumente wie die aus den Emissionsbedingungen resultierenden sowie alle übrigen Rechte, Verpflichtungen und sonstigen Bedingungen, die im Verhältnis zwischen den Emittenten und den Besitzern dieser Instrumente gelten.

(21) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und insbesondere den in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegten Grundsätzen.

(22) Da das Ziel der in Betracht gezogenen Maßnahmen, nämlich eine Mindestregelung für die Verwendung von Finanzsicherheiten zu schaffen, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen der vorgeschlagenen Maßnahmen besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft in Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsgrundsatz tätig werden. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach demselben Artikel geht diese Richtlinie nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus -

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN: